Biomechanik

Von Natur aus auf der Flucht

Um sich in der freien Wildbahn vor seinen natürlichen Feinden zu schützen, verfügt das Pferd über eine besondere körperliche Fähigkeit: die Schnelligkeit. Das Pferd ist also ein Fluchttier – das haben auch die Domestizierung und Zucht nicht verändern können. Noch heute sind gewisse Fluchtinstinkte tief in unseren Reitpferden verankert.

Bei der Witterungsaufnahme trägt das Pferd den Kopf erhoben. In dieser Haltung werden die Schultern durch den Trapezmuskel nach unten gedrückt und das Pferd ist auf der Vorhand fixiert.

Aus dieser Situation kann Panik entstehen und das Pferd ergreift die Flucht. Ein fliehendes Pferd bleibt mit der Hinterhand lange auf dem Boden, um eine höhere Schubkraft zu entwickeln. Dies bedeutet, dass der Rücken durchgedrückt ist und die Hinterhand nach hinten ausgestreckt wird.

Eine Herde Wildpferde galoppiert über eine grüne Wiese. Die Pferde recken ihren Kopf in die Höhe und die gestreckten Hinterbeine stoßen den Körper nach vorne ab.
Auf der Flucht in freier Wildbahn bleiben die Hinterbeine lange auf dem Boden und treten hinter dem Körper hinaus, um eine hohe Fortbewegungsgeschwindigkeit zu erreichen. Der Kopf wird hoch getragen, um den Überblick zu halten, der Unterhals tritt sichtbar zum Vorschein. (Foto: istockphoto.com)
Braune Mutterstute mit ihrem Fohlen bei Fuß auf der Wiese: in Witterungshaltung halten beide Tiere den Kopf in die Höhe.
Das angeborene Verhalten des Fluchttiers zeigt sich schon im jungen Alter – daran haben auch Domestizierung und Zuchtfortschritt nichts geändert. (Foto: istockphoto.com)

Solche Verhaltensweisen sind völlig normal und werden erst dann zum Problem, wenn das Pferd als Reittier eingesetzt wird. Ein tiefer Rumpf (Vorderlastigkeit) endet in Kombination mit der Belastung durch das Reitergewicht fast immer in der medizinischen Behandlung des Pferdes.

Die obere Zeichnung stellt eine Pferd dar, das einen Reiter auf ungesunde Weise trägt: Der Pferdekopf ist hoch in die Luft gestreckt, das Gewicht des Reiters drückt auf den Rumpf und die Vorhand des Pferdes. Rote Pfeile illustrieren, dass das Gewicht der Reiters in dieser Haltung auf den Vorderbeinen liegt. Das untere Bild zeigt ein Pferd ohne Reiter. Die Zeichnung visualisiert den Moment des Abstützens auf dem Vorderbein im Schritt. Rot eingezeichnet sind die negativen Kräfte, die in diesem Moment auf den Vorderhuf, den Widerristbereich und den Trapezmuskel wirken.
Höchstbelastungen im Huf des händigen Vorderbeins aufgrund der Schiefe: hier der Linkshänder auf der linken Hand. (Zeichnungen: Renate Blank)

Die natürliche Schiefe

Das Pferd kann von Natur aus seine Wirbelsäule horizontal nur auf eine Seite – die händige – biegen. Diese Händigkeit entspricht jener des Menschen: Stolpert ein Mensch, wird er mit seinem händigen Fuß den rettenden Schritt machen, um sich aufzufangen, oder sich mit der händigen Hand zuerst abstützen, wenn er hinfällt. Dasselbe Bewegungsmuster lässt sich beim Pferd auf dem Kreisbogen beobachten: Diese schwierige Situation wird ein Pferd dadurch zu meistern versuchen, dass es sich auf der händigen Vordergliedmasse abstützt.

Bei einem Rechtshänder zum Beispiel verschiebt sich die vorwärts bewegende Kraft der Hinterhand auf dem kürzesten Weg in die starke rechte Vorhand hinein, sie ist die Hand des Vertrauens. Das Pferd macht sich links hohl und die natürliche Schiefe wird verstärkt zum Ausdruck kommen, da das Pferd nun zentrifugal durch die rechte Schulter gedrückt wird. Die Wirbelsäule verschiebt – oder besser «verbiegt» – sich nach rechts mit der Folge, dass ein sich links hohl machender Körper die Wirbelsäule nicht nach links biegen kann – also in die Gegenrichtung.

Die Illustration zeigt die Wirkung der Zentrifugalkraft, wenn man ein Pferd auf dem Kreisbogen aus der Vogelperspektive betrachtet. Auf rechte Hand bricht das linkshändige Pferd über die linke Schulter aus dem Kreisbogen hinaus, auf linke Hand bricht das rechtshändige Pferd über die rechte Schulter aus dem Kreisbogen hinaus.
Wirkung der Zentrifugalkraft beim Linkshänder auf der rechten Hand (Abb. links) und beim Rechtshänder auf linken Hand (Abb. rechts). (Zeichnungen: Renate Blank)
Die Illustration zeigt die Wirkung der Scherkraft, wenn man ein Pferd auf dem Kreisbogen aus der Vogelperspektive betrachtet. Dargestellt mit einer geöffneten Schere, schert das rechtshändige Pferd auf rechte Hand mit der Hinterhand nach links und das linkshändige Pferd auf linke Hand mit der Hinterhand nach rechts aus.
Wirkung der Scherkraft beim Rechtshänder auf der rechten Hand (Abb. links) und beim Linkshänder auf der linken Hand (Abb. rechts). (Zeichnungen: Renate Blank)

Das Pferd gerade richten

Die natürliche Schiefe des Pferdes umfasst zwei Aspekte: Die angeborene Händigkeit (horizontal) und die anatomisch bedingte Vorderlastigkeit (vertikal). Beide lassen sich durch die diagonale Verschiebung korrigieren, indem das Pferd gerade gerichtet wird.

Durch das Training am Kappzaum im Rundpaddock kann die diagonale Verschiebung vollzogen werden. Mit der Longenarbeit wird dem Pferd die Fähigkeit gegeben, mit der Hinterhand Gewicht aufzunehmen und den Rumpf anzuheben.

Das geradegerichtete Pferd schwingt jetzt mit dem Rücken nach oben. Die Durchblutung der Muskeln ist optimal, was den Stoffwechsel anregt. Mit dem positiven Körpergefühl gewinnt das Pferd an Selbstvertrauen und die Belastung der Gelenke wird auf ein Minimum reduziert. Das Pferd ist nun bereit, das Reitergewicht zu tragen.

Dieses Pferd kann sich in der Ausbildungsskala wiederfinden, denn Takt, Schwung und Losgelassenheit haben sich in der neu errungenen Biomechanik vereint, basierend auf der nun selbstverständlichen Hankenbiegung, die mit der Erarbeitung der so bedeutsamen Biegungslinien erreicht wurde. Und das, bevor der Sattel auf den Rücken gelegt wird.

Die obere Illustration zeigt den Schulter- und Halsbereich des Pferdes an der Longe von der Seite betrachtet. Pfeile illustrieren die positive Einwirkung der Longen-Impulse am Kappzaum: die Schulter wird angehoben und der Hals gynatizierend nach innen gebogen. Die untere Zeichnung stellt ein Bild eines gut bemuskelten Pferdes ohne Reiter in Seitenansicht dar: Die Hinterhand tritt unter den Körper, der Rücken schwingt nach oben und der Kopf ist leicht vor der Senkrechten.
Über funktionelles Training vom Fluchttier zum Athleten: Der nach oben schwingende Rücken des Pferdes entlastet die Gelenke. (Zeichnungen: Renate Blank)
Ein weißer Hengst trabt über die Wiese.
Das Pferd in der Bewegung des Athleten: Das solide ausgebildete Pferd bewegt sich auf der Weide mit aufgewölbtem Rücken und in Selbsthaltung. Die Belastung schwingt von den Gelenken weg, die Hinterhand tritt unter den Schwerpunkt. (Foto: Melina Häfeli)