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Die Kraft der Diagonalen – Funktionelles Training für Pferde

Funktionelle Trainingsmethoden

Der Begriff des funktionellen Trainings, das auf Erkenntnissen der Sportwissenschaft und Rehabilitation im Humanbereich beruht, wird im Fachbuch Trainer für funktionelles Training folgendermaßen definiert: «Funktionelles Training zielt durch systematische, planmäßige und regelmäßige Wiederholung auf einen Veränderungsprozess an Psyche oder Körper ab, um eine bestimmte sportliche oder alltagsbedingte Leistung erbringen zu können, die von einzelnen oder mehreren Einflussfaktoren abhängig ist oder in enger Verbindung zu diesen steht.» Als oberstes Ziel dieses Konzepts wird Leistungssteigerung und Bewegungssymmetrie angestrebt.

Übertragen auf das Reitpferd bedeutet das, die natürliche Schiefe zu korrigieren, damit beim anatomisch richtigen Reiten Informationen mit feinen Hilfen vermittelt und vom Pferd willig verarbeitet werden können. Dabei gilt es zu beachten, dass funktionelles Training beim Pferd stets in Bewegung zu vollziehen ist, wobei insbesondere die biomechanisch korrekte Ausführung dieser Bewegung von zentraler Bedeutung ist. Beim funktionellen Training geht es also nicht darum, einfach nur Kraft aufzubauen, sondern vielmehr sollen die Leistungsfähigkeit erhöht und das Verletzungsrisiko reduziert werden. Ein Muskelzuwachs wird also nur dort angestrebt, wo er das Pferd bei seiner Aufgabe als Reittier unterstützt.

Trainingsmethoden sollte man immer danach beurteilen, ob sich die erarbeiteten Muskeln des Pferdes in Verbindung mit den Faszien funktionell bewegen: Findet eine korrekte und gesundheitsschonende Bewegung statt oder fehlen tragende Muskelpartien, die das Pferd für seine Aufgabe als Reittier bräuchte? Viele Reitpferde sind gezwungen, sich mithilfe von Kompensationsmuskeln zu bewegen, die die positive Entwicklung einer Bewegung verhindern und sich dadurch negativ auf die Gesundheit auswirken. Die Ursache hierfür ist die unzureichende Vorbereitung des Pferdes mit Bodenarbeit, d. h die mangelnde Kräftigung des Pferds ohne Reitergewicht. Pferde erreichen auf diese Weise viel zu schnell das Ende ihrer Leistungsfähigkeit – ihr Potenzial geht verloren.

Dunkles Pferd mit Reiterin offensichtlich in einer Turniersituation. Die Reiterin trägt Sporen und führt das Pferd mit harter Hand.
Kompensationsmuskulaturen verhindern die positive Entwicklung einer Bewegung. Pferde mit sichtbarem Unterhals und tiefem Rücken können das Reitergewicht nicht gesundheitsschonend tragen. Tragende Strukturen sollten hier dringend mit gezieltem Training gekräftigt werden. (Foto: istockphoto.com)

Funktionelles Training ist natürlich nicht nur für das Sportpferd gedacht, dessen Leistungsfähigkeit durch diese Vorbereitung der Bewegungsmuskulatur merklich ansteigt. Gerade auch Freizeitpferde profitieren enorm von der verbesserten Körperwahrnehmung und der mentalen Stärke, die mit diesem Weg einhergehen.

Stabilität der Diagonalen und Balance

Das Training mit Hilfszügeln beispielsweise ist nicht funktionell, da sie die Stabilisierung der Diagonalen, d. h. der Bewegungs- und Körpersymmetrie, für das Pferd nicht übernehmen. Pferde sollten lernen, aus eigener Kraft diese Stabilisierung zu halten, was bedeutet, das Pferd geradezurichten. Denn alles, was ein Pferd alleine tun kann, gibt dem Reiter Raum für ein höheres Ziel in der Ausbildung.

Befürworter von Hilfszügeln werden argumentieren, dass gerade diese ja dazu da sind, dem Pferd Halt zu geben. Das stimmt zwar, aber dasselbe Pferd wird dann immer auf diese Stütze angewiesen sein. Eine selbstständige Tragfähigkeit kann sich kaum entwickeln.

Schwach bemuskelter Rappe ausgebunden am Schlaufzügel mit Longiergurte. Seine Augen sind halb geschlossen, sein Gesicht wirkt ausdrucklos.
Das Training mit Hilfszügeln ist nicht funktionell. Dadurch, dass das Pferd die Stabilisierung nicht aus eigener Kraft übernimmt, wird es sich ohne diese Hilfsmittel nicht selber tragen können und wird stets verletzungsanfällig bleiben. (Foto: istockphoto.com)

Die Vorbereitung am Boden

Werden die Diagonalen gezielt durch vorbereitende Bodenarbeit aufgebaut, sinkt das Risiko von Verspannungen und gleichzeitig erhöht sich die Bewegungsfähigkeit. Der so wichtige Stoffwechsel funktioniert! Das Pferd übernimmt einen Teil der Verantwortung für seinen Körper. Es wird durchlässig. Mit der Bodenarbeit werden Stabilität und Balance in die Bewegungsabläufe gebracht und das Pferd lernt, seine Bewegungen zu kontrollieren und mit den einwirkenden Kräften umzugehen.

Klaus Schöneich longiert einen Lusitano, der in Schwungvollem Trab am Kappzaum eine perfekt Längsbiegung auf der Volte zeigt.
Beim funktionellen Training nach ARR® werden die Diagonalen gezielt an der Longe und ohne Reitergewicht aufgebaut: Das Pferd wird geradegerichtet. Ziel der Gymnastizierung ist es, die tragenden Muskelgruppen in der Bewegung zu stärken. (Foto: ARR)

Das Training unter dem Sattel

Beim Umsetzen des Erlernten vom Boden in den Sattel wird das Pferd bereits in der Aufwärmphase oder beim Abreiten auf die bevorstehenden Aufgaben vorbereitet. Es ist reitweisen-unabhängig.

Anders als beim herkömmlichen Abreiten werden die Pferde beim funktionellen Aufwärmen zusätzlich durch das Reiten auf gebogenen Linien in den Schwerpunkt geführt und damit gezielt an ihre Körperdiagonale erinnert. Das bedeutet noch keine Arbeitsleistung.

Diese vorbereitenden Übungen wärmen den Körper nicht nur auf, sondern machen ihn auch geschmeidiger und bringen ihn in einen optimalen Zustand, um den Aufbau von Kompensationsmuskeln zu vermeiden. Die Durchblutung befindet sich im optimalen Bereich. Von Anfang an wird also an der Stabilität der Diagonalen und dem Gleichgewicht in der Bewegung gearbeitet.

Durch gezieltes und kontrolliertes Training in der Diagonalen gewöhnt sich der Körper schrittweise an einen neuen biomechanischen Rhythmus: Jede Volte, jeder Kreisbogen, bis hin zum Schulterherein dient dieser Aufgabe, sofern die Vorbereitung am Boden gelungen ist. Der Wechsel von Stand- und Spielbein bekommt während des Handwechsels eine hohe Bedeutung. Das innere Hinterbein wird aktiviert, das Pferd findet eine positive Einstellung zu seinem eigenen Körper und es wird die gestellten Anforderungen gerne annehmen.

Mit diesem funktionellen Training wird das Pferd nicht nur leistungsfähiger, sondern auch mental stärker. So trainierte Pferde sind besonders in anspruchsvollen Situationen, wie an einem Turnier oder auf langen Ausritten, entspannt und locker. So wird das Reiten für Mensch und Tier zum Genuss.

Beim funktionellen Aufwärmen wird das Pferd auf gebogenen Linien in den Schwerpunkt geführt und damit gezielt an die Körperdiagonale erinnert. Volten, Schlangenlinien und Schulterherein sind Schlüsselelemente in dieser Trainingsphase.

Dehnungsarbeit

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das richtige Verständnis der Dehnungsarbeit. Statisches Dehnen ist im funktionellen Training wenig förderlich, da der Körper Veränderungen nicht stabilisieren kann. Er kehrt immer wieder in die Ausgangsposition zurück. Beim dynamischen Dehnen hingegen gewöhnt sich der Körper nach und nach an die neue gestreckte Position und entwickelt zugleich die nötigen Bewegungsmuskeln und dadurch die Balance. Hier ist auch die Biegung des Halses einzubeziehen, denn sie bringt das Pferd aus der statischen Dehnung heraus. Das Dehnen darf niemals zum Selbstzweck verkommen, sondern muss immer aus der Dynamik heraus eine Optimierung der Diagonalen anstreben. Ein Schlüsselelement der dynamischen Dehnungsarbeit am Pferd ist der Hals. Er muss als Balancestange, auf die das schiefe Pferd noch angewiesen ist, ausgeschaltet werden. Mittels Überbiegung wird das Pferd bewusst aus der Balance geworfen, damit es eine neue Diagonale finden kann, bei der die Balance über die Schultern gewährleistet wird. Jetzt kann das Pferd die neue biomechanisch veränderte Position halten und das neue Bewegungsmuster verinnerlichen. Zum Verständnis: Die Nase eines Pferdes mithilfe einer Karotte gegen Boden zu führen, also ein reines Bewegen mit dem Hals nach unten, ist ein statisches Dehnen. Ein Vorwärts-abwärts im Trab mit angehobenen Rumpf – sowohl am Kappzaum als auch unter dem Sattel – ist ein dynamisches Dehnen, das die Bewegungsqualität steigert, hin zu klarem Takt, Schwung und Losgelassenheit.

Sportlich trabender schneeweisser Schimmel bei der Longenarbeit am Kappzaum. Das Pferd ist gut bemuskelt und offensichtlich locker und kraftvoll.
Pferd in Takt, Schwung und Losgelassenheit (Foto: Andrea Heimgartner)

Schlüsselelement Rumpf

Wie bereits angedeutet, ist die Rumpftätigkeit im funktionellen Training zentral. Beim Vierbeiner Pferd heißt Bewegung auch Kraftentwicklung, doch nur ein angehobener Rumpf kann eine funktionelle Kraftübertragung sicherstellen und so eine gesunde Bewegung von Rückenmuskeln und Gelenken gewährleisten. Durch die Bergauf-Bewegung werden die Gelenke entlastet, wobei dem inneren Hinterbein eine enorme Bedeutung und Verpflichtung zukommt.

Das Finden der Balance

Zu Beginn ist das funktionelle Training für das Pferd aufgrund der natürlichen Schiefe eine große Herausforderung. Deshalb ist es wichtig, schrittweise vorzugehen und das Verständnis für die neuen Bewegungsabläufe langsam aufzubauen. Nichtsdestotrotz wird es sofort als vollwertiges Trainingsprogramm eingesetzt. Dadurch kann man mit jedem Tag die Anforderungen erhöhen.

Um Überforderungen zu vermeiden, müssen sich die Bewegungsleistungen jedoch ständig verändern. Sie wechseln zwischen Biegung und Entspannung, zwischen Kontrolle des Schwerpunktes und Dehnung. Die Körperveränderungen und die Bewegungen des Pferdes müssen dabei ständig im Auge behalten werden.

Hauptziel des funktionellen Trainings ist das Finden der Balance. Es ist die Fähigkeit, beide Körperseiten gleichwertig einzusetzen. Das logische Ergebnis ist das geradegerichtete Pferd.

Trainingsprogramm

Im Zentrum für Anatomisch Richtiges Reiten ARR werden Pferde seit 30 Jahren erfolgreich mittels funktionellen Trainings ausgebildet. Das ganzheitliche Konzept befasst sich reitweisen-unabhängig mit der Grundbewegung des Pferdes unter Berücksichtigung der rassen- und zuchtspezifischen genetischen Veranlagung.

Das funktionelle Training für das Pferd wird im Sinne von ARR in drei Phasen aufgebaut:

  1. Gymnastizierung: ca. 3–4 Wochen; an der Longe im Rundpaddock
  2. Training: ca. 7 Tage; Umsetzung vom Boden in den Sattel
  3. Ausbildung: ca. 3–4 Wochen; hier werden die Pferde unter dem Sattel gemäß ihrer rassen- und zuchtgenetischen Veranlagung der jeweiligen Reitweise (Dressur, Springen, Western, Freizeit usw.) zugeführt.
Text: Gabriele Rachen-Schöneich und Klaus Schöneich, Zentrum für Anatomisch richtiges Reiten ARR