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Sitzt, passt, wackelt und lässt keine Luft...

Vier Bilder in Serie, die Pferde zeigen, die einen deutlich abgesenkten Brustkorb aufweisen: dies unter dem Sattel beim Dressurpferd, aber auch ohne Reiter in Friese mit hochaufgerichteter Kopfhaltung.
Der tiefe Rumpf mit dem hervorstehenden Brustbein lässt sich bei Pferden aller Rassen und auf allen Leistungsstufen beobachten. Nur funktionelles Training kann dieses belastende Bewegungsmuster ändern. (Fotos: istockphoto.com)

Der Begriff Gurtzwang wird gemeinhin mit den Folgen von zu schnellem Angurten beim ersten Auflegen des Sattels verbunden. Doch obwohl sich im Bereich des Sattelbaus in den letzten Jahrzehnten eine Menge getan hat und auch das Bewusstsein für die Bedeutung eines passenden Sattels und des sorgfältigen Gurtens sich zum Positiven gewandelt hat, ist Gurtzwang bei unseren modernen Reitpferden aller Rassen leider kein seltenes Phänomen. Bei genaueren Nachdenken erstaunt das nicht. Was, wenn die Ursache für den Gurtzwang bei einer Vielzahl der Pferde im Absinken des Rückens begründet liegt?


Früher, zu Zeiten der großen Kriege und der Heeresdienstvorschrift, kamen in der Kavallerie solide, kräftige Pferde zum Einsatz, die als Remonten möglichst rasch diensttauglich gemacht werden mussten, um die Soldaten über lange Strecken durch Feld, Wald und Wiesen zu tragen. Ihre Bewegungen waren ökonomisch, ausdauernd und kräftesparend, ihre Körper kompakt und stabil. Die Gewöhnungsphase an Sattel und Reiter musste zügig vonstattengehen, das «Pferdematerial» sollte rasch und verlässlich einsatzbereit sein. Unter den Armeesattel – meist ein Einheitsmodell – kam ein Woilach, eine Militärdecke aus reiner Wolle, um die gröbsten Passungenauigkeiten abzufedern. Dennoch gab es kaum ein Kavalleriepferd, das keine Satteldrücke aufwies. Gurtzwang war dabei eine fast unvermeidbare Nebenerscheinung, die man in Kauf nahm.

Seither hat sich vieles verändert. Die Auswahl an Sattelmodellen, -unterlagen und -gurten ist schier unüberblickbar breit gefächert, die anatomische Form und die großzügige Schulterfreiheit gehören inzwischen in jeder Reitsportdisziplin zum guten Ton. Trotzdem äußert nach wie vor eine Vielzahl an Pferden ihr Unbehagen unter dem Sattel mit Gurtzwang! Wie kann das sein?

Die Antwort auf diese Frage liefert die moderne Pferdezucht, die heute wundervolle Pferde hervorbringt: leistungsbereit, sensibel und bewegungsstark. Diese extreme Beweglichkeit (Hypermobilität), die man nicht nur bei den Warmblütern, sondern bei nahezu allen Pferderassen vom Quarter Horse über den Iberer bis hin zum Isländer beobachten kann, bedeutet auch, dass das Bindegewebe im gesamten Körper übermäßig elastisch ist. Dies wiederum macht den gesamten Pferdekörper instabil, was angesichts der angezüchteten enormen Schubkraft der Hinterhand, fatale Folgen hat, wenn das Training nicht an diese anatomischen Gegebenheiten und funktionellen Bedürfnisse angepasst wird.

Und was hat das nun alles mit Gurtzwang zu tun? Anders als wir Menschen hat das Pferd kein Schlüsselbein. Stattdessen sind die Vordergliedmaßen durch eine Art Schlingenkonstruktion aus Muskeln, Sehnen und Bändern mit dem Rumpf verbunden. Das sind alles bindegewebsartige Strukturen, die nun aufgrund von veränderten Zuchtzielen eben labiler sind als noch vor wenigen Jahrzehnten. Werden diese modernen Pferde mit ihrer hohen Schubkraft traditionell, d. h. nicht über den Rücken (siehe dazu den Artikel «Moderne Pferde mit dem Rücken zur Wand») und mit fehlender Geraderichtung geritten, schieben sie mit enormer Kraft in diese instabile Tragekonstruktion hinein, was durch das Reitergewicht noch verstärkt wird. So sinkt der Rumpf immer weiter ab und belastet die Vorhand. Bisweilen tritt das Brustbein sogar deutlich sichtbar hervor, andere Pferde reagieren mit Husten auf diesen mechanischen Reiz des Brustkorbs. Auch der Rippenbogen geht auseinander und wirkt wie ein Ballon, da weder die wölbende Muskulatur der Oberlinie noch die stützende Bauch- und Brustmuskulatur dem Rumpf Stabilität verleiht. Sehr zu Unrecht gelten solche Pferde als dick und werden auf Diät gesetzt – dabei bräuchten Sie im Gegenteil gutes und ausreichend Futter, vor allem aber effizientes funktionelles Training, um fit zu werden.

Zurück zum Gurt: Der tiefste Punkt, in welchem diese gesamten Abwärtskräfte aufeinandertreffen, ist die Gurtlage. Egal wie sorgfältig angelegt, erzeugt der Sattelgurt unangenehmen bis schmerzhaften Druck, der zunächst nur in der Bewegung unter dem Reiter entsteht, schließlich aber mit dem Ausrüstungsgegenstand selbst assoziiert wird. Man darf nicht vergessen, dass Pferde, die ein solches Bewegungsmuster und Exterieur aufweisen, nicht geradegerichtet sind. Das bedeutet, dass kein Sattel funktionell angepasst werden kann. Stattdessen passen Sattler sie auf die Schiefe des Pferdes an, grobe körperliche Mängel werden allenfalls mit Polstern kaschiert. Derartige Sattelanpassungen bringen jedoch höchstens eine vorübergehende Erleichterung für das Pferd, bieten aber keine nachhaltige Lösung.

Ein solcher Gurtzwang, der aus dem Körper selbst bzw. aus der fehlerhaften Ausbildung heraus entsteht, lässt sich folglich nur durch geraderichtendes funktionelles Training beheben. Dem Pferd muss vermittelt werden, wie es seine Schubkraft in Tragkraft umwandeln kann – und dies zunächst ohne Sattel und Reiter auf dem Rücken. Erst wenn dieser essenzielle Ausbildungsschritt erreicht ist, wird dem Pferd ein passender Sattel aufgelegt und mit einem gut gepolsterten Gurt vorsichtig befestigt. Dabei gilt zu beachten, dass es aus den oben genannten Gründen nicht genügt, nur den tiefsten Punkt des Gurts am Brustbein zu polstern, sondern die gesamte Gurtlänge entlang des Rippenbogens weich unterlegt sein muss. So ausgerüstet wird das Training – nach wie vor ohne Reiter – fortgesetzt, bis das Pferd das Vertrauen in den dank der veränderten Biomechanik des Pferdes nicht mehr einengenden Gurt gefunden hat. Erst jetzt, da das Pferd in der Lage ist, seine angeborene ausufernde Schubkraft in Tragkraft umzuwandeln und den gesamten Trageapparat in der Biomechanik des Athleten zu entlasten, kommt das Reitergewicht hinzu.

Dieser gesamte Prozess kann durchaus mehrere Wochen oder auch Monate dauern. Ein Gurtzwang ist ein ernstzunehmendes Trauma im Pferdekörper, das physisch und psychisch überwunden werden muss.

Um Pferde mit Gurtzwang noch besser zu unterstützen, hat das Zentrum für ARR® einen speziell gepolsterten Sattelgurt entwickelt, dessen kommerzielle Herstellung derzeit geprüft wird. Zu gegebener Zeit werden wir hierzu im Detail berichten. Aber auch Altbewährtes wird in unserem Ausbildungszentrum hochgehalten: Gerne verwenden wir heute noch den ursprünglichen Armee-Woilach, um den Rücken unserer Ausbildungspferde unter dem Sattel zu schonen. Dennoch nützt alles gute Material nichts, wenn das Training nicht abgepasst und das Pferd nicht in seiner Biomechanik vom Fluchttier zum Athleten umgeschult wird. Nur so ist gewährleistet, dass nicht Symptome behandelt, sondern langfristige Lösungen für gesundheitsschonendes Reiten erarbeitet werden.

Text: Gabriele Rachen-Schöneich und Klaus Schöneich, Zentrum für Anatomisch Richtiges Reiten ARR