Den Athleten Pferd gymnastizieren? Ja gerne!
Ob Freizeit- oder Spitzensportler: Dehnungsübungen gehören für jeden bewegungsfreudigen Menschen zum Standardrepertoire. In der Pferdeausbildung hingegen hängt jeder formalen Abweichung von der Lehrbuchlektion ein zweifelhafter Ruf an – völlig zu Unrecht, wenn man die sportphysiologischen Hintergründe kennt.
Grundsätzlich unterscheidet die Trainingslehre zwischen dynamischem und statischem Dehnen bzw. Stretching. Während beim dynamischen Dehnen die gedehnte Position federnd kurz gehalten und dann gleich wieder verlassen wird und dies in mehreren Wiederholungen, wird beim statischen Dehnen die Stretchingposition länger beibehalten. Durch dynamisches Dehnen wird der Körper bzw. die Muskeln und Faszien auf eine bestimmte sportliche Anforderung vorbereitet, es lockert die Strukturen auf. Mit statischem Dehnen geht man tiefer in die Strukturen hinein, weshalb die Muskeln anschließend weniger leistungsfähig sind und solche Übungen nicht vor einer sportlichen Betätigung ausgeübt werden sollten. Ob dynamisch oder statisch, Dehnhaltungen sollten immer schmerzfrei sein!
Aus dem Humanbereich weiß man, dass Mobilität und Stabilität zwingend Hand in Hand gehen müssen, um die Verletzungsgefahr möglichst gering zu halten. Zu jedem sinnvollen Muskelaufbautraining gehört also auch ein angepasstes Stretchingprogramm.
Weshalb also wird das dynamische Dehnen des Pferdes im Training so vehement abgelehnt? Ist es am Ende vielleicht ein sprachliches Missverständnis? In der Reiterei ist der Begriff des Dehnens nahezu unbekannt. So wird eine Abweichung des Halses von der Längsachse als «Biegung» bezeichnet. Im alltäglichen Sprachgebrauch jedoch gehört dieser Begriff in den Bereich der Technik: Man (ver)biegt irgendein Material, man biegt in eine Straße ein usw. Wird die Biegung beim Pferd über das Maß der eingeschlagenen gebogenen Linie (Zirkel, Volte usw.) erhöht, wird gar von «Überbiegung» gesprochen – meist in verwerflichem Tonfall, als wäre die Tierquälerei nicht mehr weit.
Schlagen wir noch einmal eine Brücke zur Trainingslehre beim Menschen: Würden Sie die Vorbeuge, den Ausfallschritt oder den Katzenbuckel als Alltags- oder Gebrauchshaltung bezeichnen? Wohl kaum! Dennoch sind diese Dehnungsübungen unbestritten von unschätzbarem Wert, um Verspannungen zu lösen, die Durchblutung anzuregen und die Leistungsfähigkeit von Faszien und Muskeln zu optimieren. Dasselbe gilt beim Pferd: Die Überbiegung darf niemals ein Dauerzustand und schon gar nicht eine vom Menschen mit Kraft erzwungene Haltung sein! Vielmehr sollte der vierbeinige Athlet mit feinen, wiederholenden Impulsen dazu eingeladen werden, vorübergehend diese Dehnungshaltung einzunehmen – stets federnd und schmerzfrei.
Das Dehnen oder «Gymnastizieren», wie man in der Pferdeausbildung auch sagt, ist für jeden zwei- und vierbeinigen Athleten Grundvoraussetzung, um gesundheitsschonend Sport treiben zu können. Durch die ruhigen, zwanglosen und lösenden Übungen erfährt der Körper eine gewisse Entspannung bzw. Losgelassenheit, der Stoffwechsel wird angekurbelt und die Durchblutung der Muskulatur optimiert. Wie sagt man so schön: «In einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist.» Das heißt doch eigentlich: Wenn der Körper funktioniert, stimmt auch der mentale Bereich!
Bei der Schiefen-Therapie® und dem Anatomisch Richtigen Reiten (ARR®) legen wir großen Wert auf das gezielte Gymnastizieren bzw. Dehnen des Halses. Das gefühlvolle und schrittweise Überbiegen der immens starken Halsmuskulatur fördert die Durchlässigkeit und macht den Weg über die Schulter diagonal zur Hinterhand frei. Man könnte fast sagen, wir mobilisieren die Pferde von vorne nach hinten, um sie schließlich von hinten nach vorne zu stabilisieren. Dieses Training muss jedoch ohne Hilfsmittel wie Ausbinder oder einen stützenden Stock erfolgen, um funktionell zu sein und nachhaltig wirken zu können – sowohl an der Longe als auch unter dem Sattel.
Unsere Dehnungsarbeit mit der Überbiegung des Halses zu einer Seite ist jedoch keineswegs ein Dauerzustand oder ewiges Werk! Diese intensive Dehnungsphase steht ganz am Anfang unseres Trainingsprogramms, das darauf abzielt, das Pferd in die horizontale und vertikale Balance zu führen, denn Pferde sind von Natur aus vorderlastig und auf einer Körperseite hohl, auf der anderen steif (rechts- oder linkshändig). Um unsere Pferde nachhaltig gesund und leistungsfähig zu halten, müssen wir ihnen durch gezieltes funktionelles Training die Möglichkeit geben, ihre Kraft so einzusetzen, dass Gelenke, Muskeln, Bänder und Sehnen geschont werden – egal in welcher Disziplin und Leistungsklasse wir mit unseren vierbeinigen Freunden unterwegs sind.
Wie aber erreichen wir die Korrektur dieser Händigkeit und Vorderlastigkeit? Wenn wir uns das schiefe Pferd vereinfacht bildlich vorstellen, belastet es stets vermehrt sein dominantes (händiges) Vorderbein, als wäre es «ein Stück kürzer» als die restlichen drei Beine. Entsprechend verkürzt und wenig gedehnt sind die Strukturen der gegenüberliegenden Körperseite: Um dieses Ungleichgewicht zu kompensieren, setzt es seinen Hals als Balancestange ein. So schaut es im Zirkel nach außen, wenn man es nicht mit Zügeldruck oder begrenzenden Longierutensilien davon abhält. In dieser schiefen Haltung entsteht immer Spannung im ganzen Pferd bis hin zu Kompensationsmuskulatur, Schmerzen und Verletzungen. Wie also können wir veranlassen, dass das metaphorisch gesprochen «kürzere Bein» auf die Länge der restlichen drei Beine wachsen, sprich: es seinen Bewegungsradius erweitern kann? Indem wir dem Pferd vermitteln, dass es den Hals als Balancestange und Steuerelement nicht mehr einsetzt und stattdessen seinen Körper auf der Hinterhand ausbalanciert. Das ist die Schiefen-Therapie®.
Beim diesem funktionellen Longentraining wird der Hals mittels federndem, dynamischen Dehnen nach und nach zu beiden Seiten hin beweglicher gemacht. Das Training erfolgt ausschließlich im Trab, da die diagonale Trittfolge dieser Gangart dem Pferd die diagonale Verschiebung vom inneren Vorderbein auf das äußere Hinterbein erleichtert. Das Dehnungstraining beginnt über die Blicklenkung bei den Augenmuskeln und endet schließlich auf dem diagonalen äußeren Hinterbein. Die Last wird so schrittweise vom inneren Vorderbein auf das äußere Hinterbein verschoben. Jetzt wird das innere Vorderbein frei und kann «wachsen». Für eine erfolgreiche Gymnastizierung sind viele kurze Trainingseinheiten nötig. Die ersten Einheiten dauern zirka 10 Minuten, während derer regelmäßig die Hand gewechselt und dem Pferd kurze Denkpausen gewährt werden. Da wir mit diesem funktionellen Training am Urinstinkt der Fluchtbereitschaft sowie den tiefen Haltungsmuskeln und dem Fasziengewebe arbeiten, ist die Longenarbeit zu Beginn mental und körperlich äußerst ermüdend für das Pferd. Da braucht es viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl, um das Pferd nicht unnötig zu belasten.
Ist die vollständige und beidseitige Halsdurchlässigkeit nach drei bis vier Wochen erreicht, gelingt die diagonale Verschiebung auf das äußere Hinterbein: Jetzt braucht das Pferd die Überbiegung nicht mehr, sondern kann in Stellung und Biegung longiert und geritten werden. Nur zwischendurch soll es noch mittels Impulsen zu einer dynamischen Überbiegung eingeladen werden, um die Durchlässigkeit im Hals abzurufen und die diagonale Verschiebung im Pferd langfristig zu festigen. Mit diesem Training wird das natürliche Bewegungsmuster des Fluchttiers nachhaltig verändert. Um dieses zu verinnerlichen, braucht der Pferdekörper eine gewisse Zeit und mehrere Wiederholungen, damit es den neuen angenehmen Balancezustand findet: dynamisches Dehnen des Halses – diagonale Verschiebung der Last! Man kann sich das wie Radfahren beim Menschen vorstellen: Wer als Kind im Spiel immer wieder in die Pedalen tritt, wird auch als Erwachsener selbst nach 30 Jahren Fahrradpause keine Mühe haben mit dem für den Menschen völlig unnatürlichen Balancezustand auf zwei Rädern.
Das oberste Ziel dieser wohl dosierten und dennoch intensiven Dehnungsarbeit ist die Umwandlung der Biomechanik des Fluchttieres in die Biomechanik des Athleten, so wie es die Natur vorgibt: Unser Vorbild muss das Bewegungsmuster des Hengstes oder der Leitstute sein, die in aufgewölbter Haltung ihre Herde oder ihr Fohlen schützend umkreisen – ein Bewegungsmuster, bei der sie optimal beweglich, reaktionsschnell und stark sind. An dieser grundlegenden Tatsache hat auch der sogenannte «Zuchtfortschritt» nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Die modernen Pferde – und dies betrifft nicht nur Warmblüter, sondern genauso die Isländer, Haflinger oder Quarterhorses – sind heute mit einer enormen Aktion der Hinterhand ausgestattet, und nur die frühe und nachhaltige Umwandlung dieser Schubkraft in die Tragkraft kann eine langfristige, verletzungsfreie Nutzung dieser Pferde gewährleisten. Unsere langjährige Erfahrung hat gezeigt, dass genau diese fehlende Umwandlung von der Schubkraft zur Tragkraft die Ursache vieler medizinischer Probleme ist, die Tierärzte, Therapeuten und Trainer vor scheinbar unlösbare Rätsel stellen. Sie ist mit ein Grund, weshalb viel zu viele hoch talentierte Pferde in jungen Jahren von der sportlichen Bildfläche verschwinden. Der noch immer weit verbreitete Irrglaube, man dürfe Pferde nicht zu früh auf die Hinterhand setzen, wird diesen wundervollen Wesen zum Verhängnis.
Die Überbiegung, und damit die Umwandlung der Schubkraft in die Tragkraft, ist also alles andere als eine schädliche Zwangshaltung. Mit dem nötigen Feingefühl herbeigeführt, wird das dynamische Dehnen vom Pferd vielmehr als lösend und aktivierend empfunden. Körper und Geist finden Harmonie und Freude in der Zusammenarbeit mit dem Menschen, dem es seine Kraft und Leistungsbereitschaft gerne zur Verfügung stellt. Und Sie, haben Sie sich heute schon gedehnt?