Geraderichten verstehen
«Geradeaus» in der Kavallerie
Der Grundstein für die Skala der Ausbildung wurde 1912 gelegt, mit dem Ziel, die Kriegsführung zu Pferde möglichst effizient zu gestalten. Daraus entstand die Heeresdienstvorschrift (H.Dv.), die bis heute weitgehend unverändert das Herzstück unserer Reitlehre bildet.
Das oberste Ziel der Ausbildung war, Pferde rasch und soweit solide auszubilden, dass sie von den Soldaten über lange Strecken am mehr oder weniger losen Zügel zuverlässig geritten werden konnten. Man hatte im Kriegseinsatz keine Hände frei, um an Stellung und Biegung zu arbeiten und auch die Hankenbeugung, also die Versammlung, war absolut zweitrangig. Nur in Friedenszeiten, wenn man sich viel Zeit für die Ausbildung der Kavalleriepferde nehmen konnte, wurde auch an der Versammlung als letzte Priorität – und somit an der Geraderichtung als Etappenziel dahin – gearbeitet. Dies spiegelt sich noch heute in der Skala der Ausbildung wider.
Pferde damals und heute
Heute ist die Pferdelandschaft eine ganz andere. Zum einen hat sich der Markt geöffnet und es stehen zahlreiche Pferderassen aus aller Welt zur Verfügung, von denen man zu Gründungszeiten der H.Dv. nie gehört hatte. Zum anderen hat sich das ursprüngliche Kavalleriepferd zum modernen Sportpferd entwickelt, dem die Zucht deutlich mehr Rittigkeit und ganz andere körperliche Voraussetzungen mit auf den Weg gibt als noch vor hundert oder auch noch vor fünfzig Jahren. Diesen hoch athletischen und sensiblen Tieren wurde eine Hinterhand angezüchtet, deren hervorragende Schubkraft einem Hochleistungsmotor gleichkommt.
Damoklesschwert Schubkraft
Doch gerade diese scheinbar herausragende Errungenschaft der Warmblutzucht hat für das Pferd fatale Folgen, wenn sich der Mensch bei der Ausbildung nicht auf diese veränderten Gegebenheiten einstellt: Wird das moderne Sportpferd heute noch nach denselben Richtlinien wie vor über 100 Jahren trainiert, wird diese Schubkraft – vollkommen richtlinienkonform – bereits zu Beginn der Ausbildung multipliziert. Die erst schwach bemuskelte Remonte wird in den ersten Monaten und Jahren bewusst vorwärts geritten, ohne dass ihr Körper diese enormen Kräfte abfangen kann.
Erfahrungsgemäss sind rund 85 Prozent der nach der Skala der Ausbildung trainierten Pferde aufgrund der traditionell zu starken Förderung der Schubkraft bzw. des Vorwärtsreitens so vorderlastig, dass die einst vielversprechenden Bewegungen nicht mehr erkennbar sind und sich verschiedene gesundheitliche Defizite zeigen. Es fehlt vielen Pferden an Losgelassenheit, Takt und Schwung. Sie liegen stark auf der Hand oder verkriechen sich hinter dem Zügel, sodass ein reelles «Über-den-Rücken-Gehen» nicht möglich ist. Zungenfehler und Anlehnungsprobleme, aber auch Lahmheiten und Widersetzlichkeiten sind u. a. die Folgen davon.
Dass eine grosse Zahl der Pferde trotz Einhalten der Richtlinien an Qualität verliert und gesundheitliche Einbussen hinnehmen muss, sollte aufhorchen lassen. Wo liegt der Fehler? Der Schlüssel liegt in der Entwicklung der Tragkraft vor der Schubkraft. Die Zucht bedingt an diesem Punkt der Ausbildungsskala ein grundlegendes Umdenken: Um unsere Pferde langfristig gesund, leistungsfähig und qualitätsvoll zu erhalten, muss zwingend bereits zu Beginn der Ausbildung die Tragkraft entwickelt werden. Nur so kann die zuchtbedingte Schubkraft vom Pferd körperlich ausgehalten werden.
Deshalb muss das Geraderichten als Basis einer soliden Ausbildung betrachtet werden. Erfolgt die Korrektur der natürlichen Schiefe und das Training hin zur Lastaufnahme der Hinterhand nämlich bereits zu Beginn der Ausbildung, entwickelt das Pferd früh die nötige Tragkraft, um mit den einwirkenden Kräften umgehen zu können. Dieser Ausbildungsschritt muss innerhalb weniger Wochen in Form von funktionellem Training vollzogen werden, noch bevor überhaupt ein Reiter in den Sattel steigt. Takt, Schwung und Losgelassenheit entwickeln sich dadurch als logische Folge aus der Biomechanik der Geraderichtung heraus bereits an der Longe. Das so vorbereitete Pferd kann sich anschliessend auch unter dem Reiter reell über die tragfähige Hinterhand und den starken Rücken in eine ruhige, leichte Anlehnung begeben.
Wird das Geraderichten als Lebensaufgabe betrachtet, wurde die Bedeutung dieses Ausbildungsschrittes gänzlich unterschätzt und es bleiben die Pferde die Leidtragenden.